Die Diffusion des Humanen, Einleitung
In der Gegenwart werden die konzeptionellen Grenzen durchlässig und es entstehen unscharfe Ränder bei der Definition von Lebewesen und Artefakten – dies gilt insbesondere für die zentralen Ordnungsbegriffe ›Leben‹ und ›Kultur‹. Mit dem Prozess der Öffnung dieser Konzepte wird auch die Kategorie des Humanen diffus; sie bildet keine scharf umrissene Entität mehr, sondern zerfasert an verschiedenen Enden. Dies bedeutet insofern eine krisenhafte Situation für das Selbstverständnis von Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft, als gerade diese Felder bislang von einem distinkten Begriff des Menschen ausgegangen sind. Sofern aber die Definition des Humanen eine Revision erführe, wären auch die bislang gültigen Modi von Kulturalisation und Vergesellschaftung disponibel. Weit entfernt davon, bloße Spekulation zu sein, sind die entsprechenden Themenfelder seit einigen Jahren heftig umkämpfter Gegenstand sowohl wissenschaftlicher (Genese des Menschen; Speziezismus-Debatte) als auch politischer (Definition von ›Personen‹; Status des menschlichen Embryos) Diskussionen, deren Ausgang nach wie vor offen ist.
In dieser Situation der Verunsicherung kann ein reflexiver Ansatz weiterhelfen, der sich nicht innerhalb der etablierten Disziplinengrenzen bewegt. Vielmehr beabsichtigt ein solcher Ansatz, deren Voraussetzungen zu durchleuchten, indem er Fragen stellt wie diese: Warum wurden die Grenzen zwischen den Konzepten durchlässig? Weshalb ist das einst Selbstverständliche zum Problem geworden? Wie selbstverständlich waren diese im Nachhinein als gegeben angenommenen Kategorien wirklich? Mit welchen Begriffen von ›Leben‹ und ›Kultur‹ haben wir es zu tun, und welchen Sinnverschiebungen waren und sind sie ausgesetzt? Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen, dass das Humane zunehmend diffus wird?
Als Kulturwesen ist der Mensch zwangsläufig auf Künstlichkeit verwiesen. So stellt die von Helmuth Plessner entworfene philosophische Anthropologie als zentrales Charakteristikum des Menschen dessen »Exzentrizität« heraus, also seine besondere Position in der Welt, die anders als für das Tier nicht nur eine Umwelt ist, sondern eine Einheit, der sich der Mensch gegenüberstellt, über die er symbolisch verfügt und die er sinnhaft transformiert. In diesem Sinne ließe sich vom Menschen sagen, er sei von Natur aus künstlich, weil er Weltmächtigkeit erst in Distanzierung zur Welt erlangt. Ansätze zu einer solchen Sichtweise auf den Menschen, die eine Amalgamierung von Natürlichkeit und Künstlichkeit als Kultur anstreben, lassen sich schon bei Platon ausmachen. Auf verschiedene Weise wird die These schließlich vom französischen Materialismus (Holbach, LaMettrie) und vom deutschen Idealismus (Herder) ausgeführt. Insbesondere im deutschen Kontext überwiegt allerdings eine metaphysisch ausgerichtete Interpretation der künstlichen Anteile des Menschen. Im Vordergrund steht hier vor allem die Einsicht in die Historizität kultureller Institutionen, die keinen Naturgrund aufweisen, sondern als Ergebnis menschlichen Handelns gewertet werden müssen. In dieser Perspektive haben zu Anfang des 20. Jahrhunderts noch Leo Frobenius die Ethnologie und Alfred Weber die Kulturwissenschaft vorangetrieben.
Demgegenüber bedeutet es eine deutliche Akzentverschiebung, wenn in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die künstliche Dimension der Anthropologie nicht mehr allein auf kulturelle Praktiken bezogen wird, sondern auf Technologie als deren Instrumentarium. Ansätze dazu gibt es von verschiedener Seite aus schon relativ früh, etwa bei Oswald Spengler oder Friedrich Georg Jünger. Erst mit einem bestimmten Standard der Technisierung jedoch wird es möglich, eine nicht nur existentielle sondern apriorische Verschränkung des Menschen mit technischen Prozessen und Epistemen zu konstatieren. In diesem Sinne legen Siegfried Giedion und Günther Anders Analysen zur »Herrschaft der Mechanisierung« (Giedion) und zur Automation vor. Zum Teil darauf aufbauend entwickelt sich spätestens seit den 1970er Jahren eine differenzierte Philosophie und Soziologie der Technik. Deren hervorstechendes Merkmal blieb es aber immer, trotz der Amalgamierung von Natur- und Kulturprozessen eine distinkte Definition des Menschen behaupten zu können. Nicht nur im Anschluss an eine philosophische Anthropologie nach Plessner, auch gemäß der Paläoanthropologie etwa Leroi-Gourhans, ist diese Verbindung sogar zur Voraussetzung einer pointierten Markierung des Menschlichen geworden und hat sich somit als Differenzkriterium gegenüber anderen Lebensformen etabliert.
Erst das ausgehende 20. Jahrhundert hat schließlich jene Dynamiken eines Diffuswerdens des Humanen in die unterschiedlichen Richtungen in Gang gesetzt, die Gegenstand dieses Bandes sind. Das Leitkonzept der »Diffusion« bezieht sich dabei auf die beiden Prozesse a) der Ausweitung und b) der damit einhergehenden zunehmenden Unschärfe des Begriffs des Humanen: Die Bedeutung des Menschlichen wird diffus im Sinne von Unschärfe wie auch von Ausdehnung. Entsprechend fallen nicht mehr nur natürliche Personen in den Bereich des Menschlichen. Die Anwendung des Konzeptes dehnt sich auf neue Felder aus; sie wandert sozusagen aus dem ursprünglichen Anwendungsbereich aus und diffundiert hin zu neuen Entitäten. Der Begriff des »Diffusen« meint also, dass bislang gängige Konzepte und Definitionen zwischen einzelnen Entitäten, Spezies oder Lebewesen unscharf und durchlässig werden. In wesentlichen Bereichen von Kultur wird nicht mehr ohne weiteres über einheitliche Begriffsbestimmungen verfügt. In der Folge wird es extrem erschwert, einzelne Phänomene wie z.B. den »Menschen« zu benennen, da es an Möglichkeiten einer Abgrenzungsstrategie sowohl in Richtung anderer Lebewesen als auch von Artefakten mangelt. Es entstehen Schnittstellenbereiche, deren Objekte/Subjekte mindestens binär definiert sind – etwa frühembryonale Lebensformen oder so genannte Cyborgs. Insgesamt sorgt ein solcher Diffusionsprozess aber nicht nur für Irritation, er bedeutet darüber hinaus auch einen nachhaltigen Abstraktionsschub für die kulturellen Symbolisierungsleistungen.
Die Verwischung der scharfen Grenzen zwischen den Kategorien sowie zwischen den Spezies vollzieht sich ausgehend von den beiden Polen jener oben genannten traditionellen Dualismen (Natur/Kultur, Körper/Geist, etc.): Das Gegebene wird immer mehr auch als das Gemachte gesehen, und das vermeintlich Gemachte als das Gegebene interpretiert; Kultur wird in jedem Bild von der Natur gefunden und Natur umgekehrt als das die Kultur Bestimmende verstanden. Auffällig bei diesem Prozess ist, dass es sich um gleichzeitig verlaufende Entwicklungen sowohl in den technischen Wissenschaften als auch in der Biologie handelt, was zu Überschneidungen führt (etwa in der Bioinformatik). Gemäß ihrem Selbstverständnis als Naturwissenschaft beabsichtigt die Biologie die Naturalisierung des Menschen. Konsequent in der Weiterführung des Darwinschen Ansatzes der phylogenetischen Eingliederung des Menschen in den natürlichen Stammbaum der Organismen betreibt sie die Integration des Menschen in ein naturwissenschaftliches Weltbild. Genetik, Soziobiologie und Neurowissenschaft entwickeln allgemeine Prinzipien und Theorien, aus denen der Mensch nicht als das ganz Andere der Natur herausfällt, sondern als eine natürliche Spezies neben anderen erscheint. Parallel zum Projekt der Naturalisierung des Menschen werden in der Biologie auch Ansätze einer Anthropologisierung des Tieres verfolgt, indem traditionell allein dem Menschen zugeschriebene Eigenschaften und Leistungen bereits beim Tier gesehen werden: Sprache, Intelligenz und Bewusstsein gelten nicht mehr als exklusives Humanum, sondern als in der Evolution schrittweise sich entwickelnde Vermögen, die in mehr oder weniger entfalteten Formen auch bei nicht-menschlichen Lebewesen zu finden sind. Diese Tendenz zur Graduierung und Integration führt schließlich dazu, die Existenz eines Bereichs, der außerhalb der Natur steht, gänzlich zu negieren: Das Menschliche oder allgemein: Kultur wird zu einer Erscheinungsform der Natur; auch Affen, die gruppenspezifisches Verhalten, wie das Knacken von Nüssen mittels Steinen, von einer Generation zur nächsten weitergeben, gelten als Träger von Kultur – diese wird damit nicht mehr als das exklusiv Menschliche gesehen.
Nicht nur ausgehend von der Biologie, auch von Seiten der Philosophie und Kulturwissenschaft werden die Grenzen unscharf. So verliert mit Derridas Ablehnung der ›Metaphysik der Präsenz‹ die philosophische Sprache ihren Anspruch auf Eindeutigkeit. Es entsteht eine denkerische Operation, die in ihrer Konsequenz auch die bisherige Klarheit der Begriffe ›Mensch‹, ›Leben‹ und ›Kultur‹ und ihre Bedeutung sprachphilosophisch dekonstruiert. Derridas Methode der Subversion fixierender Begriffe, ebenso wie Foucaults Theorie der Auflösung des Subjekts, haben in den Geisteswissenschaften deutliche Spuren hinterlassen und begünstigen die Diffusion des Humanen indirekt, indem sie Begriffe als Signifikanten von dem durch sie Bezeichneten loslösen und den Fokus auf Sinn- und Grenzverschiebungen richten.
Schließlich wird in Literatur und Film (Harry Mulisch, Matrix, Blade Runner) die Verschmelzung zwischen Menschen und technischer Artifizialität, vorrangig in der Science Fiction, aber durchaus auch gegenwartsbezogen, thematisiert. Seit den 1970er Jahren werden hier kontinuierlich Szenarien einer technischen ebenso wie einer biologischen Transformation des Menschen durchgespielt (W. Gibson, Ph. K. Dick). In diesem Sinne haben besonders die Kulturwissenschaften populärkulturelle Imaginationsräume als Laboratorien latenter Veränderungen hinsichtlich der symbolischen Repräsentation des ›Menschen‹ entdeckt. Die Auflösung der Geschlossenheit des Paradigmas des Menschen hat die Alltagswahrnehmung sicherlich noch vor den Ergebnissen aus der Wissenschaft über kulturelle Verarbeitungen erreicht.
In den Wissenschaften spiegelt sich die Fragwürdigkeit der alten Grenzziehungen in der beginnenden Etablierung neuer Disziplinen, die nicht mehr von den alten Polaritäten ausgehen und somit das Feld grundsätzlich neu konfigurieren. Beispiele hierfür sind die Biosemiotik sowie die symmetrische Anthropologie Bruno Latours. Diese Ansätze gehen nicht mehr von der alten Gegenüberstellung von Mensch und Natur aus und versuchen das traditionelle kulturwissenschaftliche Begriffsinventar von einer lebenswissenschaftlichen Basis her zu entwickeln: Im Falle der Biosemiotik werden Zeichenprozesse als universal biologische Phänomene interpretiert, auf deren Grundlage eine Begründung der Konzepte von Sinn, Bedeutung, Gefühl und Wert entwickelt wird; Latour weist auf den hybriden Status der kognitiven Welten aller Lebewesen hin: Die erkannten Objekte sind nicht nur wahrgenommene Sachen der Außenwelt, sondern sie werden erst in einem Wechselspiel von Sensualität und biologisch-kultureller Schwerpunktsetzung zu dem, was sie sind: hybride Strukturen zwischen Objektivität und Konstruktion.
Der Begriff ›Mensch‹ ist im Rahmen der jüngsten Entwicklung der Wissenschaften und Philosophie also zweifellos von einer singulären, normativ geschützten Kategorie zu einem unscharfen, diffusen Konzept transformiert, das sich einer eindeutigen Festlegung entzieht. Es markiert daher Problemfelder und provoziert weit eher offene Fragen, als dass es klare Antworten gibt. Das Konzept verfügt, wie man mit Friedrich Waismann sagen kann, über eine Porosität oder eine offene Textur. Poröse Begriffe stellen nicht geschlossene, sondern offene Konzepte dar, d.h. sie umfassen aufgrund ihrer komplexen Verortung einen weiten Bereich und können einem sich ändernden Kontext flexibel angepasst werden.
Die Offenheit eines Konzepts stellt daher alles andere als ein Defizit dar. Die jüngere wissenschaftstheoretische Diskussion zeigt vielmehr, dass dem Offenen, Vagen oder Diffusen eine klare Funktion in dem Fortschritt auch der empirischen Wissenschaften zukommt. Nicht wenige Begriffe beziehen einen Teil ihres heuristischen Werts aus dem Nicht-Festgelegtsein auf eine enge, scharf umrissene Bedeutung. Dies gilt für die Humanwissenschaften ebenso wie für die Naturwissenschaften (vgl. z.B. die Begriffe ›Kraft‹, ›Energie‹ oder ›Zeit‹ in der Physik und ›Organismus‹, ›Gen‹ oder ›Leben‹ in der Biologie). Die Unschärfe legt Assoziationen in viele Richtungen nahe und regt die Bildung von Hypothesen an. Das begrifflich Unscharfe erscheint als das Fruchtbare, oder wie es Gaston Bachelard formuliert: »le plus vague est le plus puissant«. Eine genaue Definition wird dagegen nicht selten als Hemmnis für die Forschung betrachtet; denn erst die Unschärfe der Begriffe ermöglicht ihre Verwendung in einem dynamischen Prozess, dessen Richtung ungewiss ist: Um als Instrumente der Forschung funktionieren zu können, müssen sich Begriffe »in den Bereich dessen zu erstrecken vermögen, was wir gerade noch nicht wissen« (H.-J. Rheinberger). Aus der Geschichte der Begriffe lässt sich daher der Schluss ziehen, dass eindeutige Definitionen den Fortschritt des Wissens zuweilen mehr hemmen als fördern können.
Insgesamt kann eine gegenwärtige Konjunktur des Vagen und Unscharfen in den Wissenschaften konstatiert werden, für die der Begriff ›Mensch‹ nur ein Beispiel bildet. Die Frage ist, wie die spezielle Unschärfe des semantischen Feldes des Humanen einzuschätzen und wie mit ihr in praktischen Anwendungskontexten zu verfahren ist. Reflektiert die notorische Unschärfe des Begriffs ›Mensch‹ seine Stellung an der Forschungsfront eines noch wenig ausgeleuchteten Feldes? Wird der empirische oder reflexionstheoretische Fortschritt eine schärfere Bestimmung der Kategorie des Menschen bringen? Oder zeigt die gegenwärtige Entwicklung vielmehr, dass das Feld des Menschlichen mit dem wissenschaftlichen Progress immer diffuser wird und es daher immer weniger sinnvoll erscheint, dieses unbekannte Objekt scharf zu umreißen? Die ganze Brisanz dieser Fragen stellt sich in konkreten Entscheidungsprozessen im Alltagshandeln und in der Rechtsprechung: Gegenwärtig scheint kein Weg daran vorbeizuführen, für praktische Entscheidungen – z.B. für die Zuschreibung von Rechten an Embryonen oder die Behandlung von Menschenaffen als Personen – das Konzept des Menschen zu schärfen.